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Was
uns der Turmknopf zu Naundorf erzählt
Im
Verlauf des Abbruchs der Kirche zu Naundorf wurde der Turmknopf, die
Wetterfahne und der Stern, die am 1. Oktober erstmalig Simon
Altenfelder aus Merseburg aufsteckte, am Dienstag, dem 4. September
1956 von Dachdeckern der Firma Gebrüder Graul aus Merseburg
abgenommen. Die Abnahme des Knopfes war zum einen durch die Höhe
des Turmes und die Beschädigung desselben und zum anderen durch
Flakbeschuss während der letzten Tage des Zweiten Weltkrieges sehr
schwierig. Auch erwies es sich nicht als gut, dass die beiden
Halbkugeln zusammengelötet waren. Einige neue Beschädigungen des
Knopfes ließen sich deshalb wohl nicht vermeiden.
Die Kugel
hat einen Durchmesser von 60 cm und ist aus etwa 0,5 mm starkem
Kupferblech hergestellt, auf welches Blattgold aufgelegt wurde und
welches sich bei der Demontage in guter Erhaltung zeigte. Auch die
Wetterfahne, die im Jahre 1925 nach dem Muster der alten, stark
verrosteten Fahne vom Schmiedemeister August Köhler und dessen Sohn
Otto Köhler in Körbisdorf neu angefertigt wurde, war gut erhalten.
Im Turmknopf
befanden sich, wie dies älteren Leuten von früher her bekannt war,
eine Kupferblechhülse mit Inhalt, und was nicht allen bekannt war,
eine Blechschachtel mit einer im Jahre 1899 begonnenen
Dachdeckerchronik .Im Jahre 1777 war der Turmknopf erstmalig
heruntergenommen und in diesem eine 'Zeitkapsel' hinterlegt.
Die
Kupferblechhülse enthielt Urkunden aus den Jahren 1746, 1777, 1833,
1881, 1899, 1913, 1925 und 1933, sowie vier versiegelte Päckchen
mit Münzen.
Die älteste
Urkunde stammt aus dem Jahre 1746. Sie berichtet uns zunächst über
die alte Kirche und die Umstände ihres Abrisses und Neubaus.
Die weiteren
Urkunden berichten u.a. Folgendes:
„Anno 1777
am 2ten Juli ist die Knopfe vom Thurme herunter genommen worden,
weil sie äußerst schadhaft war, indem in den vorigen Kriege 1759
zwey preußische Jäger sie aus Muthwillen durchschoßen hatten. Man
fand in derselben Vier durchschoßene Löcher, welche der
Schieferdecker aus Merseburg Mstr. Altenfelder wieder ausgebeßert
hat"
„1771 und
72 war besonders in Sachsen eine ausserordentliche Hungersnoth, daß
der Scheffel Korn in hiesiger Gegend 10 Thaler kostete."
Urkunde aus dem Jahre 1833
„Da unser
Kirchturm einer nothwendig gewordenen Reparatur bedurfte, so wurde -
- - zu dessen Ausbesserung - - - vorgeschritten."
„Außerdem
ist bemerkenswerth daß unsre Kirche zu Naundorf vor dreiundzwanzig
Jahren nehml. im Jahre 1810 eine neue Orgel erhielt, welche ,die
Gebrüder Gehrhardt aus Kahla erbauet haben."
„So wurde
im Jahre 1822 ein neues Schulhaus von hiesiger Gemeinde durch den
Zimmermeister Rühlemann aus St. Mücheln erbauet."
„Was für
die Gemeinde Naundorf nahmentlich von Interesse ist, das ist die
seit Zehn' Jahren begonnene und ebenfalls im Laufe dieses Jahres
1833 zu Stande gebrachte Feld-Separation, wo, alle Grund-Stücke
versteint wurden, und wo dem hiesigen Schulamte 3 Morgen Landes
zugelegt wurden."
„An
ansteckenden Krankheiten ist im Laufe der jüngst verfloßenen Jahre
keine Spur entdeckt worden, unser Naundorf gleichwie Benndorf ist
davon befreit gewesen, obgleich die Cholera im vorigen Jahre 1832 in
Halle und Merseburg, und in vielen einzelnen Dörfern und Flecken an
der Saale, als Dürrenberg, Balditz, Teuditz vorzüglich, in Vesta,
Schlechtewitz und in der Umgegend von Halle, viele Opfer
dahingenommen hat; so daß in Teuditz allein 50 Vater und
Mutterlose Waisen in fremden Familien untergebracht wurden. In
Merseburg hatte die Cholera innerhalb zweier Monate auf 200 Personen
dahin gerafft, in Halle aber, wo sie auch vier Monate gehauset hat,
mag sie gegen 800 Personen in wenig Tagen der Krankheit dahingerafft
haben. Dafür hat sich nun in diesem Jahre fast an allen Orten und
in allen Gegenden Deutschlands, auch in unserm Naundorf die Grippe
gezeigt, sie ist ein epidemisch kattharalischer Schnupfen, deren
Krankheitsverlauf 8 auch wohl 14 Tage dauerte; sie scheint in Folge
der Cholera entstanden zu seyn, und kam wie diese von Rußland u.
Polen zu uns, jedoch sind nur einzelne Menschen daran
gestorben."
„Dieses gegenwärtige Jahr
1833 zeichnet sich sehr aus durch große Hitze und anhaltende
Dürre, die Sommersaat steht im Ganzen dürftig, das Korn aber ist
bei alle dem sehr gut; heftige Gewitter haben an vielen Orten
großen Schaden gethan, wir sind bis jetzt im Monat July davon
verschont geblieben. Die Krautpflanzen und alles andere Viehfutter
scheinen dießmal sehr spärlich gerathen. Das Heu wird sehr in
Preiß kommen ..."
„Recht
segensreich ist in diesem Jahre der Weinbau, die Blüte sehr zeitig,
. . . , so daß ihre Reife auf nächsten Monat August erfolgen
kann."
„Beifolgendes
Geld ist seit einigen Jahren unsre Scheidemünze, unter den Nahmen
von Silbergroschen, Silbersechser und Silberpfennige."
„Die
Anzahl der Schulkinder beträgt an jetzt 40 und die Seelenzahl
sämtlicher Einwohner von Naundorf ist 193."
Die
Urkunde vom Jahre 1881 sagt uns nicht viel.
„ . . . war infolgedessen
der Thurmknopf am 26.April 1881 abgenommen worden und von dem darin
befindlichen Inhalt Kenntniß genommen worden. Zu jenen wieder an
ihren Ort gebrachten Einlagen wurden bei dem Wieder aufsetzen, des
Knopfs durch den Schieferdecker Karl Hetzscholdt aus Merseburg am
30.April 1881 die gangbarsten Reichsmünzen mit eingelegt, wie sie
gegenwärtig ... im Gebrauch sind."
Urkunde
zu Naundorf, den 8.Juli 1899
„In Folge eines
Blitzschlages in der Abendstunde des .Mai 1899 in den Naundorfer
Kirchthurm - Gott sei Dank war es ein sogenannter kalter Schlag, der
nicht zündete, … - mußte zu einer gründlichen Reparatur des
entstandenen Schadens geschritten werden ..."
„Die
Gemeinde Naundorf zählt zur Zeit 317 Einwohner, die Schule 74
Schulkinder; es findet immer noch Halbtagsschule statt."
Die
Dachdecker schrieben :
„Im
Jahre 1899 den 13.Mai schlug der Blitz in den Naundorfer Kirchthurm,
wurde von dem Dachdeckermeister Julius Reinsberger, Benndorf, Louis
Glaß, Dachdeckermeister, Weißenfels, und dem Schieferdecker Albert
Megold aus Weißenfels wieder repariert. 'Herr Zimmermeister Edmund
Rudloff übernahm die ganze Arbeit. Herr Öconom Friedrich Dietrich
als Stammgast bei Herrn Gastwirth Friedrich Wächter Naundorf.
d. 8.7.1899 Julius
Reinsberger Benndorf."
Das Jahr 1913 sagt uns :
„Notwendig
erwies sich unbedingt die sofortige Ausbesserung des Schieferdaches
am Turme. Sie ist mit einem Kostenaufwand von 600 Mark
beendet." … „Bei dieser Gelegenheit ist der Knopf des
Turmes, der einige Schußlöcher aufwies, zugleich mit der Fahne
zwecks Ausbesserung heruntergenommen worden. Es wurde beschlossen,
den Knopf und Teile der Fahne durch den Maler Weidemann in Merseburg
für den Preis von 54 Mark vergolden zu lassen."
„Obgleich
die Gemeinde etwa 360 Seelen zählt, kann man unter Wehmut bekunden,
daß die Beteiligung an den Gottesdiensten von einer großen Zahl
der Einwohner nicht mehr beibehalten wird. Für das kirchliche Leben
kommen nur die alt angessenen Familien in Betracht, während die
zugezogenen Bewohner ihr Christentum nur noch durch die Taufe ihrer
Kinder, durch kirchliche Trauungen und Begräbnisse hervortreten
lassen. Die gewaltig anwachsende Kohlenabbau-Industrie überzieht
die Dörfer des Geiseltales mit den aus allen Gegenden herbei
strömenden Arbeitern."
Der Dachdecker berichtet:
„Merseburg,
d. 26.6.1913.
Zur
Erinnerung meiner Kollegen, teile ich mit, daß ich in obiger
angegebener Zeit den Turm, (den Fuß und die Seiten von Morgen u.
Mittag) umgedeckt habe, alles übrige nur ausgebessert, Kuppel und
Fahne ist vergoldet. - Es war alles Tagelohn und habe pr. Stunde 80
Pfennig erhalten.
Unterzeichnet Paul Müller,
z. Zeit Merseburg, Domstr. 14 ptr.
Urkunden aus dem Jahre 1925:
„Die
von wetterlichen Einflüssen schadhaft gewordene Wetterfahne auf dem
Turme unserer Kirche zeigte, wie sich herausstellte, auch ein
nahendes, aber noch zu verhütendes Unglück an. War doch die
Holzspindel, auf der sich der Turmknopf befindet, weit über einen
Meter in Fäulnis begriffen, so daß ein Absturz der ganzen
Turmbekrönung bei heraufziehendert Stürmen unvermeidlich wurde.
Nur unter Anwendung von großer Vorsicht konnten die Dachdecker die
Arbeit in den Lüften vornehmen: Nun soll wiederum der von
bösartigen Menschen zur Ziel-Scheibe genommene und durch
Einschüsse durchbohrt gewesene Knopf von seiner kurzen Ruhe auf der
Mutter Erde seiner Bestimmung zusammen mit der vom Schmied August
Köhler in Körbisdorf erneuerten Wetterfahne, als Bekrönung zu
dienen, zugeführt werden ..."„Die
anliegenden Geldscheine geben Kenntnis von der Tatsache, daß eine
Mark im Frieden mit 1 Billion im November 1923 bezahlt werden mußte.
Alles früher ersparte Geld ist der Inflation und somit der
Vernichtung anheim gefallen, so daß viele einstige Millionäre
bettelarm und zur Zeit von Staatszuschüssen leben .. ."
1933 sagt uns :
„Es
wird hierdurch berichtet, daß bereits im Jahre 1914 eine Renovation
der Kirche und des Turmes zur Ausführung kommen sollte. Der
dazwischen getretene Weltkrieg hat aber allen Plänen auf lange
Jahre hinaus ein Ende bereitet. Durch die Geldknappheit nach der
Inflation mußte auch weiter die Ausführung unterbleiben ..."
„An
Arbeiten sind zu verrichten: Die Schieferdeckung des Turmdaches, die
Herrichtung der Wetterfahne und die ringartige Vergoldung des
Turmknopfes; ferner die Wiederherstellung der seit langer Zeit nicht
mehr gangbaren Turmuhr, die zugleich neue Zifferblätter und eine
neue bessere Stangenführung im Getriebe erhält; dann die
Instandsetzung der Orgel unter Einbau neuer Prospektpfeifen. Selbige
wie auch zwei Glocken mußten der Metallgewinnung für den Krieg
geopfert werden .. ."
„Das
Dorf Naundorf zählte am 10. Oktober 1933 im ganzen 586 Einwohner,
darunter 539 Evangelische, 36 Katholische und 11 Dissidenten."
Bericht der Dachdecker:
„Merseburg,
den 11. Oktober 1933. An diesem Turm sind von der Fa. R. Hetzscholdt,
Dachdeckermstr., Merseburg, Lindenstr. Nr. 1, durch Dachdecker
Richard Bielig und Lehrling Erich Hesselbarth 2 Bauchseiten und 4
Seiten der Durchsicht mit neuem Schiefer und Kupfernageln
eingedeckt. Ferner ist der Knauf und die Wetterfahne herabgenommen;
letztere ist durch ein Rohr als Führung stabiler gemacht worden, da
sich vorher der obere Teil mit dem Stern immer wieder schief legte.
Knopf ist gereinigt und mittlere Wulst vergoldet.
Außerdem
sind auf dem Kirchdach 4 Erkerfenster neu angebracht. Erker sind von
R. Bielig, Ernst Hoffmann und Lehrling Erich Hesselbarth mit Ziegel
eingedeckt und die Wangen mit Schiefer beschlagen.
Es war eine
recht trockene Arbeit. Allerdings stand uns der Brunnen vor dem
Friedhof ständig zur Verfügung.
Richard Bielig, geb. am 21. Juli
1883. Schieferdecker
Merseburg, Fliederweg 20."
Wie
wir im Sommer und Herbst 1956 gesehen haben, wurde in Naundorf die
Turmhaube mit Knopf, Wetterfahne und Stern fachmännisch abgebaut.
Nun werden viele Menschen denken, dass hiermit die 210-jährige
Geschichte des Turmknopfes von Naundorf abgeschlossen ist; das ist
aber nicht der Fall. Die Turmhaube von Naundorf wurde, so wie wir
sie kannten, im Sommer 1957 in Friedensdorf (früher Kriegsdorf) bei
Merseburg wieder aufgebaut.
Und
weshalb kam der Turm nach Friedensdorf?
Im
Jahre 1738 wurde der Turm zu Friedensdorf gebaut. Den Plan zum
Kirchenbau hatte der Landesbaumeister und Hofbildhauer Johann
Michael Hoppenhaupt gegeben.
Leider
ereignete sich damals ein schwerer Unfall. Der Chronist Georg
Möbius schreibt:
„1738:
In diesem Jahre stürtzte der Zimmermann Tobias Bauer aus Merseburg
vom Thurm zu Kriegsdorff, als er die Spindel anmachen wollte, und
blieb auf der Stelle tollt."
„1739:
Den 11. Oct. wurde die neue Kirche zu Kriegsdorff eingeweyhet."
Da dieser schmucke Bau großen Anklang fand, baute man 1745 und 1746
in Naundorf eine gleiche Kirche mit denselben Maßen. Deshalb hatten
auch bis in unsere Zeit hinein beide Dörfer gleiche Kirchtürme. Am
Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch wurde durch Flakbeschuss die
Turmhaube in Friedensdorf zerstört.
Aus diesem
Grunde konnte nun die Turmhaube ohne große Änderungen von Naundorf
nach Friedensdorf umgesetzt werden. Auch der stark beschädigt
gewesene und wieder instand gesetzte Turmknopf von Naundorf, die
Wetterfahne, in der jedoch die Jahreszahl von 1746 auf 1738
geändert wurde, und der Stern wurden am 25. Juli 1957 wieder
aufgesteckt. Die Urkunden, die sich in Naundorf im Knopf befanden,
liegen als Fotokopien wieder im alten Turmknopf.
Was
sagt uns heutigen Menschen diese Chronik, dieses Tagebuch der
Jahrhunderte. Das sich nicht viel veränderte … gut, man rast
heute mit dem Auto durchs Land, statt mit dem Pferdewagen zu reisen
- telefoniert mit dem I-Pad anstatt sich direkt zu unterhalten -
verspeist Äpfel aus Neuseeland, wo unsere doch viel besser
schmecken. Ansonsten ist alles beim Alten, die Bauern klagen über
das diesjährige schlechte Wetter (je nach Bedarf, mal zu trocken,
mal zu feucht, mal zu heiß, mal zu kalt) und die schlechten Preise
für ihre Produkte. Der Pope klagt, dass seine Kirche so leer ist
und er bestenfalls als Partyveranstalter missbraucht wird. Die
Handwerker sind stolz auf ihre Arbeit und resümieren, sicher nicht
ohne Ironie, dass sie glücklich waren, dass bei ihrer trockenen
Arbeit doch der Friedhofsbrunnen zur Verfügung stand. Die
halbstarke Dorfjugend randaliert mit der 'Büchse', anders als heute
ist diese aber nicht mit Farbe gefüllt, sondern mit Blei und macht
unangenehme Löcher. Man stelle sich nur heute das Aufgebot an
Polizei und Medienvertretern vor und den Aufschrei der Moralapostel,
sollte jemand eine denkmalgeschützte Kirche (oder gar Moschee bzw.
Synagoge) beschießen! Und … wir dürfen davon ausgehen, dass -
wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft - eine Generation
der nachfolgenden erzählt, wie arbeitsam, genügsam, bescheiden,
rechtschaffend und gesetzestreu sie doch war. In solchen Fällen ist
es gut, eine solche Chronik als eine Art Spiegel zur Hand zu haben.
'Die
Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren,
verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten
und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht
mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren
Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch
die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren
ihre Lehrer.'
Sokrates,
griechischer Philosoph (um 469 v.u.Z - 399 v.u.Z)

Kirche
Naundorf
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